Mai.
Im Tagebau wird unverändert und unaufhörlich gearbeitet und die Landwirte versuchen, sich mit der dritten, zu trockenen Vegetationsperiode in Folge zu arrangieren. Sie dürfen dafür unentgeltlich das Grundwasser nutzen, das für die Trockenlegung des Tagebaus abgepumpt wird.
Dank Internet bin ich während der letzten Monate auf dem Laufenden geblieben.
In einem Youtube-Beitrag ist z. B. der erste Karnevalsumzug im Ersatzort zu sehen, vorbeiziehend an Neubauten, Rohbauten und noch leeren Grundstücken.
Das diesjährige Schützenfest musste abgesagt werden, das ebenfalls erstmals im neuen Ort stattfinden sollte. Straßenschmuck in Form von Maibäumen ist jedoch sowohl im alten als auch im neuen Ort zu sehen.
Gottesdienste fanden bis zu deren Einschränkung anlässlich der Corona-Krise nicht mehr nur in der Kirche in Keyenberg statt, sondern auch im Festzelt, das der Neubausiedlung im letzten Jahr von RWE spendiert worden war.
Das Friedhofstor von Keyenberg wurde demontiert, aufbereitet und im Ersatzort installiert, zum Verdruss derjenigen, die noch auf die Rettung ihres Heimatortes hoffen.
Meinen Rundgang starte ich am Friedhof. Wo einst das Tor war, klafft nun eine große Lücke in der Umrandung. Nach meinem Eindruck sind mehr als die Hälfte der Gräber bereits geräumt.
Ein Viertel der insgesamt ca. 330 Anwesen ist noch bewohnt, aber Verbarrikadierungen zum besseren Schutz vor Einbrüchen sind nach wie vor nur wenige zu sehen.
Ein leeres Haus, das im Dezember noch bewohnt war, ist das Küsterhaus.
Viele Katzenbesitzer sind schon weggezogen. Aber an einem Haus waren bisher immer Katzen anzutreffen und ich freue mich, dass ich auch dieses Mal wieder Glück habe.
Und beim Vorbeischlendern an einem anderen Haus traue ich meinen Augen kaum: Da wird die Einfahrt noch neu gepflastert. Der Besitzer hat das nötige Material eh auf Lager, verfügt über einen entsprechenden Maschinenbestand, er und sein Sohn scheuen den Aufwand nicht und finanziell lohnt sich das, da die neu gepflasterte Einfahrt beim Verkauf an RWE deutlich höher bewertet wird als die bisherige.
Der Ersatzort ist erwartungsgemäß weiterhin gewachsen, RWE rechnet mit einer Umsiedlungsquote von 59 %.
Auch das erste Mietshaus der Pfarrgemeinde ist inzwischen fertiggestellt und bewohnt. Mit einer Dame, die auf ihrem Balkon sitzend das Treiben auf den Straßen beobachtet, komme ich ins Gespräch. Sie freut sich über ihre neue Wohnung, in der alles vom Feinsten sei und bei Reparaturbedarf ein Hausmeister zur Verfügung stehe. Im neuen Ort sei Leben im Gegensatz zu Keyenberg, das schon wie ausgestorben wirke. Auf meine Nachfrage berichtet sie mir außerdem, dass der ehemaligen Küsterin Frau D. mehrmals eine Wohnung in diesem Haus angeboten worden sei und sie es aber vorgezogen habe, nach Erkelenz zu ziehen. Frau D. und die Pfarrgemeinde haben sehr unterschiedliche Positionen, was das Engagement für die Bewahrung der Schöpfung und die Kooperation mit RWE angeht, und insofern überrascht es mich nicht, dass Frau D. offenbar keinerlei Vertrag mehr mit der Pfarrgemeinde abschließen mochte.
August.
Ursprünglich schon für Herbst 2019 geplant, aber erst im Juli begonnen wurde der Rückbau der L277, was die Wohnqualität in Keyenberg zusätzlich beeinträchtigt. Die L277 verlief parallel zur A61 u. a. an Keyenberg vorbei und die Umleitung für PKW führt nun durch das Dorf, außerdem sind für die verbliebenen Keyenberger manche Wege dadurch länger.
Anlässlich des Rückbaus der L277 und nach langer, Corona bedingter Pause finden Protestaktionen statt unter Beobachtung durch die Polizei, die sich, wenn sie nicht auf Kontrollfahrt ist, auf dem Schulhof positioniert.
Die Sommerferien sind eine beliebte Phase für Umzüge und im Ort sind wieder recht viele „Dorfsärge“ zu sehen - so werden von manchen die großen Müllcontainer bezeichnet, in denen der Hausrat landet, der nicht ins neue Heim mitgenommen wird.
An jedem zweiten Sonntag wird die Kirche für 1-2 Stunden geöffnet und so habe ich nochmals die Gelegenheit, darin einige Fotos zu machen. Sogar ein Hobbyorganist ist anwesend und darf auf der Orgel spielen.
Was mit dem Inventar nach Profanierung der Kirche geschehen soll, ist noch in Klärung.
Mittlerweile sind viele Zugänge zu Gärten aufgebrochen worden. Und da noch keine Betreten-Verboten-Schilder für verlassene Grundstücke von RWE an den Ortseingängen aufgestellt wurden, habe ich mir erlaubt, mich in manchen dieser Gärten umzusehen: Kaum ein Garten, in dem nicht mindestens ein Gartenhaus steht, dazu ist oft auch Platz für großkronige Bäume wie Walnuss, Esskastanie oder Kirsche.
Ohne Worte.
Oktober.
Mittlerweile sind Ortsschilder für die Neubausiedlung aufgestellt und die meisten Straßenlinden haben den Sommer offenbar gut überstanden.
Mit der Errichtung der Kirchenkapelle wurde begonnen.
Wohl dank der immer wärmeren und trockeneren Sommer der letzten Jahre sind unter den Neuanpflanzungen in den Gärten etliche Olivenbäumchen und Palmengewächse zu finden.
Und zum ersten Mal sehe ich in Keyenberg II eine freilaufende Katze.
In Keyenberg treffe ich immer seltener Menschen auf der Straße. Auch an der jüngsten dort angelegten Straße sind deren Häuser, die vor nichtmals 20 Jahren gebaut wurden, überwiegend verlassen.
Gegen die Tristesse sollen Trocken- oder Kunststoffpflanzen in den Fenstern von geräumten Häusern helfen.
Im September hatten Aktivisten einen Tag lang die Gaststätte Keyenberger Hof besetzt und dekoriert. Davon übrig sind die Beschriftungen der Fenster und einige Blumenkästen.
Mein Eindruck in der aktuellen "Gemengelage" ist, dass tatsächlich die Chance besteht, dass alle Dörfer bleiben.
Dezember.
In der dörflichen Infrastruktur von Keyenberg sind weitere Verluste eingetreten. Die Sparkasse hat ihren Geldautomaten in ihren einstigen Räumlichkeiten aufgegeben. Die Firma für IT-Lösungen, die ein denkmalgeschütztes Anwesen aus dem 18. Jahrhundert genutzt und sehr gut gepflegt hat, ist weggezogen. Dort treffe ich einen Herrn, er ist Mitte 80 und Mieter. Im kommenden Jahr wird er mit in das Mehrfamilienhaus seiner Vermieterin nach Keyenberg II ziehen. Er freut sich zwar darauf, dann bei seinen täglichen Runden durchs Dorf wieder mehr Unterhaltung zu haben, aber er ist alleinstehend und es graut ihm vor dem Ein- und Auspacken all seiner Dinge. Er ist immer mit seinem Rollator unterwegs und wird sich nach dem Umzug vorerst nur auf den Straßen bewegen können, da die Gehwege in der Ersatzsiedlung noch nicht angelegt sind.
Schon im Oktober war mir aufgefallen, dass die Reitstallungen von Haus Keyenberg einen verlassenen Eindruck machen im Gegensatz zum Herrenhaus der wasserumwehrten Anlage. Das Gut ist seit mehreren Generationen in Familienbesitz und es ist vermutlich schwierig, dafür eine gleichartige Alternative zu finden.
Und wie nicht anders zu erwarten war, eröffnet sich inzwischen die eine und andere Chance für Urbexer.